Stille Ecken in Berlin

Unsere Stadtoasen

Böhmische Dörfer

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von Kai Stoppel

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Ländliches Idyll

In Neukölln gibt es eine begehbare Zeitmaschine. Sie liegt mitten im Herzen des Stadtteils, aber nicht sehr offen sichtbar, sondern etwas abseits der lauten Karl-Marx-Straße. Der Eingang zur Zeitmaschine ist die Richardstraße – sie führt in eine Epoche, in der Berlin hier noch gar nicht richtig existierte. Wo hier nur ein uraltes, kleines Dörfchen zwischen Wäldern und Feldern kauerte. Die Zeitmaschine ermöglicht die Rückkehr in das alte Neukölln. Wie etwa zur Zeit des preußischen Königs Friedrich Wihelm I. Und noch viel weiter davor.

Den Eingang der Maschine ist am Alfred-Scholz-Platz. Die Richardstraße verläuft von hier aus gen

Kirchgasse

Kirchgasse

Süden. Sobald man in sie einbiegt, beginnt die Reise. Linker Hand schrumpeln die Stockwerke der Häuser nach und nach zusammen – wie in dem Film „Die Zeitmaschine“, als der Protagonist aus dem Fenster blickt und die Röcke im Schaufenster im Laufe der vorbeieilenden Jahrzehnte immer kürzer werden. Zeitlich nur in die andere Richtung.
Nach nicht einmal einer halben Meile Fußmarsch ist man fast am Ziel: Es geht links in die Kirchgasse, ein paar Meter reinlaufen, fertig. Die Zeit-(An)reise ist zu Ende. Man ist dann im Jahr Siebzehnhundert-schlag-mich-tot angekommen.

Um die Reise genießen zu können, und nicht von der neuzeitlichen Gestaltung abgelenkt zu werden (Zeitreisen sind zu 99 Prozent Einstellungssache), sollte man sich jetzt nur auf die unmittelbare Umgebung konzentrieren.

Kaiser Friedrich-Wilhelm I.

Kaiser Friedrich-Wilhelm I.

Was ist hier zu sehen? Ein kleiner Platz mit der Statue Friedrich Wilhelms I. im Süden. Im Schatten ein paar alte Bäume. „1755“ steht auf dem Sockel der Statue geschrieben. Schräg gegenüber: das älteste Schulgebäude Neuköllns. Kirchgasse 5. Etwa von 1753. Zusammen mit dem halbhohen Mäuerchen davor, den anliegenden Gärten und anderen Anbauten aus derselben Epoche wird die Illusion perfekt – das Berlin von heute verschwimmt allmählich im Hintergrund. Es wird leiser. Nun ist man wirklich in dem kleinen „Böhmischen Dorf“ angelangt.

Hier kann man einmal tief durchatmen und die frische „Landluft“ genießen. Das Schulgebäude mit leicht welligem Spitzdach sieht noch so gut erhalten aus, dass man jeden Moment mit einer Horde Kinder rechnet, die zum Unterrichtschluss auf den Vorhof rennen. Die Mädchen mit über dem Kopf zusammengeflochtenen Zöpfen und die Jungen in knielangen Culotten – eben wie zur damaligen Zeit gekleidet.

Altes Gehöft mit Vorplatz. Dahinter Berlins "moderne Wohnhäuser".

Altes Gehöft mit Vorplatz. Dahinter Berlins moderne Wohnhäuser

Dann hupt von irgendwo ein Auto. Die Großstadt kommt zurück in die Erinnerung. Schnell sollte man jetzt einen kleinen Schleichweg nehmen, der links an dem doch sehr gönnerisch auf seinem Podest stehenden Preußenkönig vorbeiführt. Durch ein backsteinernes, kleines Tor hindurch, links in einen Park und gleich wieder rechts auf einen schmalen Fußweg, der an einer Gruppe eingeschossiger Häuser vorbeiführt. An Ende des Weges wartet der nächste Zeitreisen-Flash: ein keines, altes Gehöft im fensterlosen Rücken der hohen Mietskasernen. Das Ensemble besteht aus einer alten Scheune und einem Bauernhaus aus Backstein. Hier kann man noch einmal seufzen: „Hach, wie die Menschen damals hier gelebt haben müssen…“. Ja, die Zeiten waren besser, das Leben glücklicher. Möglicherweise.

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Charmante Backsteinhäuser im alten Stil

Genug geschwelgt, weiter geht es geradeaus, zwischen den hohen, modernen Häuserrücken hindurch auf das letzte Stück der Zeitreise: den Richardplatz. Hier wird es zugegebenermaßen noch herausfordernder, die Illusion aufrecht zu erhalten – wer sich aber Mühe gibt, erfährt hier die Vollendung und reist zum frühest möglichen Zeitpunkt zurück. Vor dem geistigen Auge erwacht das „Richardsdorp“ (später Rixdorf, heute Neukölln) des späten Mittelalters zum, na, ja Leben vielleicht nicht, aber eine Idee davon bekommt man schon. Der Schlüssel dazu befindet sich im Südosten des Platzes: die Bethlehemskirche. Man muss sich vor sie stellen (oder sie langsamen Schrittes umkreisen) und leise vor sich hinsagen: „Krass – das Ding steht schon seit fast siebenhundert Jahren hier (Jedenfalls ein Teil davon). Krass.“

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Finaler Einkehrort: Restaurant Villa Rixdorf

Dann hat man es geschafft, ist buchstäblich die Jahrhunderte zurückmarschiert, und fühlt sich möglicherweise etwas wehmütig. Ein Gespräch mit der Begleitung über das Wunder der Tatsache, dass sich die Menschheit und ihre Städte so rasant verändert haben, wäre ein guter Abschluss der kleinen Zeitreise. Zum Runterkommen sozusagen. Danach kann man dann selig gen Osten taumeln – Richtung „Villa Rixdorf„. In der Gaststätte in dem urigen alten Haus mit leckerer (und vergleichsweise günstiger) Karte können die Eindrücke sacken. Innerlich taucht man dann langsam wieder im Hier und Jetzt auf. Ein Kaffee beschleunigt den Prozess. Ein Bier verlangsamt ihn. Oder umgekehrt.

Route zum Nachlaufen

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