von Carlo Schwarzmann
Den Kopf freizubekommen ist in einer turbulenten Stadt wie Berlin oftmals nicht leicht. Überall sind Trauben hektischer Menschen unterwegs – sie drängen sich in überfüllte Züge, rempeln einander an, um möglichst schnell von einem Ort zum nächsten zu gelangen. Zeit für Ruhe und Reflexion von persönlichen Erlebnissen bleibt dabei selten. Und ist dennoch so wichtig! Es gibt allerdings viele wunderbare stille Ecken in Berlin, die die Großstadthektik schnell vergessen lassen. Grün bewachsene Flächen und Parkanlagen sind in Berlin zuhauf vorhanden. Besonderen Reiz bietet der Jüdische Friedhof Weißensee. Neben den anderen drei Friedhöfen in der Großen Hamburger Straße, Heerstraße sowie Schönhauser Allee ist dieser seit 1880 mit über 115 000 Grabstellen auf 42 Hektar der größte jüdische Friedhof Europas.
Der prächtige Eingang mit dem stilvoll geschwungen gusseisernen Tor lässt schon erahnen, wie groß das Areal dahinter sein muss. Gleich vorweg werden Männer gebeten, ganz nach jüdischem Brauch eine Kopfbedeckung zu tragen, die sich der Besucher ausleihen kann. In der Mitte des Eingangsbereiches wurden zahlreiche Blumenkränze niedergelegt und Kerzen angezündet, die an die Ermordung der Juden im Nationalsozialismus erinnern.
Dann hat der Besucher die Wahl: Links und rechts von der Trauerhalle mit der gelblichen Ziegelfassade führt jeweils ein Weg in den Friedhofspark. Ich entscheide mich für den linken. Dieser ist etwas abschüssig und bietet eine gute Aussicht auf die folgenden, zahlreichen Abzweigungen und Rondelle, die der Architekt Hugo Licht entwarf. Überall umgibt mich die grüne Natur, Vögel zwitschern und ich kann mich nicht entscheiden, in welchen Abzweig ich als nächstes gehen soll. Vergessen ist allerdings all die Hektik, die ich fünf Minuten zuvor noch spürte. In diesem Park ist es so ruhig, dass selbst der eigene Atem hörbar ist – perfekt, um sich ganz und gar fallen zu lassen.
Diese stille Ecke Berlins ist kein typischer Friedhof. Vielmehr gelang bei der Konzeption die Balance aus Park und Ruhestätte. Auf den mit kleinen Steinen gepflasterten, unebenen Wegen laufe ich dann an sowohl prunkvollen Mausoleen als auch einfachen Gräbern vorbei, die in quadratischen, dreieckigen, trapezförmigen oder oktogonalen Feldern angeordnet sind. An manchen bleibe ich stehen, weil die klugen Inschriften zum Nachdenken anregen. Unter den Gräbern befinden sich jene berühmter Persönlichkeiten, wie der Komponist Louis Lewandowski, der KaDeWe-Gründer Adolf Jandorf oder von Herbert Baum, der ein bedeutender Widerstandskämpfer des Nationalsozialismus war.
Wer den Park in seiner Gänze durchlaufen möchte, benötigt etwa zwei Stunden. Doch auch für ein kurzes Durchatmen von 15 bis 30 Minuten können kurze Routen gewählt werden.
Dem einen mag ein Friedhof etwas schwer zugänglich erscheinen, um dort der Hektik des Alltags zu entfliehen. Allerdings ist dies ein Ort, an dem so manch anderer Spaziergänger anzutreffen ist. Was den jüdischen Friedhof Weißensee darüber hinaus so besonders macht, ist seine bemerkenswerte und untypische Architektur sowie seine gute Erhaltung. Vor allem aber wandelt man auf dessen kulturhistorischen Pfaden und tankt gleichermaßen Energie, die das sonst so hektische Berlin abverlangt.
Jüdischer Friedhof Weißensee
Herbert-Baum-Straße 45
13088 Berlin
weitere Infos
S Greifswalder Straße